Stephan Brückner

Interview aus dem Jahr 2016 für "bitte stör mich"


Mein Interview  mit Stephan Brückner 8 Jahre später, März 2024


Marion Sauer: 

Hallo lieber Stephan, Sie als selbst Betroffener, wie wichtig finden Sie Aufklärung über Depression und wie kann Sie stattfinden? 

Stephan Bruckner: 

Die Depression scheint in unserer Leistungsgesellschaft in einer Art „Schmuddelecke“ zu stehen. Wie in einem Nebel aus unsäglichen Tabus und Stigmata. Schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sich die Depression ja längst zu einer Volkserkrankung entwickelt hat.

Aufklarungsarbeit ist der wirkungsvollste Hebel, um die Depression aus jener Schmuddelecke heraus zu ziehen. Die Tabuisierung und die Stigmatisierung sind - neben der Erkrankung selbst - ein problematisches Übel, das eine fatale Wirkungsspirale aufrecht erhalt. Denn mit ihnen gehen bis heute sehr hartnäckige Falschvorstellungen und Vorurteile einher. Diese wiederum führen zu Ablehnung, Verachtung und Isolation.

In der Folge dessen verleugnen wir als Betroffene unsere gesunkene Leistungsfähigkeit und unsere Hilfsbedürftigkeit tendenziell lange vor uns selbst. Und das ist besonders tragisch, als dass die Selbsteinsicht der wichtigste erste Schritt zur Genesung ist. 

Außerdem versuchen wir, den eigenen Zustand vor anderen Menschen zu verbergen. So tragen wir eine Maske, machen gute Miene zum bösen Spiel. Hier ist es so wichtig, zu verstehen, dass uns diese „Maskerade“ enorm Kraft kostet. Eine Kraft, die wir eigentlich schon lange nicht mehr haben.

Angesichts jener Fakten wird klar, dass umgekehrt ein möglichst offener und ganz natürlicher Umgang mit der Erkrankung nützlich und wünschenswert wäre. Aufklärung ist dann am effizientesten, wenn die Betroffenen sprechen und sich mutig mit ihrem Gesicht und ihrer wahren Identität zeigen. Prominente gehen hier oft mit einem guten Beispiel voran. 

Persönlich finde ich, dass Aufklärungskampagnen inhaltlich aber noch erheblich bessere Arbeit leisten könnten. Um das Übel einmal wirklich an der Wurzel zu packen, würde ich mir wünschen, dass wir - abseits medizinisch geprägter Argumentationen – insgesamt mehr für Offenheit, für Bildung über psychische Zusammenhange (möglichst schon in der Schule) sensibilisieren würden. Ebenso wie für die biografischen Auswirkungen und für wichtige stabilisierende Skills, wie zum Beispiel das Selbstmitgefühl. Über dieses Thema könnte ich stundenlang referieren und diskutieren;). 

Marion: 

Ist Depression eine Krankheit? 

Stephan: 

Eine Depression ist nach Medizin–wissenschaftlichen Maßstaben natürlich eine Krankheit. Ferner ist eine Depression selbstverständlich generell sehr ernstzunehmend. Sie ist keine Schande und hat nichts mit persönlichen Schwächen oder etwa mit Faulheit zu tun, wie das so mancher Stigma-hafter Irrglaube nach wie vor leider verbreitet. 

Im Volksmund wird der Begriff Krankheit aber auch als etwas verstanden, gegen das man nicht viel tun kann, außer zur Medikamentenkeule zu greifen. Und deswegen betrachte ich das Thema – einhergehend mit einigen Fachleuten – auch gerne aus einer anderen Perspektive. Demnach verstehe ich eine Depression gewissermaßen als eine „gesunde Reaktion auf eine ungesunde Lebensweise“

Man könnte auch sagen, dass es sich bei der Depression um dringliche Warnhinweise des Körper handelt, damit wir uns nicht weiterhin dauernd im roten Bereich überdrehen. Es handelt sich um Ermahnungen, sein Denken und Handeln grundlegend und nachhaltig zu verändern. Ignorieren wir jedoch diese Warnhinweise, dann werden die depressiven Schübe immer stärker, ... und dem Körper bleibt im Zweifel nichts anderes übrig, als sich mit totaler Antriebslosigkeit selbst zu schützen. 

Marion: 

Was empfehlen Sie Lebenspartner*innen und Angehörigen? 

Stephan: 

Den Lebenspartner*innen und Angehörigen depressionserkrankter Menschen empfehle ich vorrangig Selbstfürsorge zu betreiben und ihre eigene Resilienz zu stärken, da sie im Abgasstrahl der Depression stehen und damit im Risiko der Co-Erkrankung.

Daneben helfe ich ihnen mit Wissenstransfer über das Wesen der Depression. Insbesondere sollen sie in die Lage versetzt werden, das innere Erleben und die Reaktionen des depressiven Menschen besser nachvollziehen zu können. Und darüber hinaus strebe ich Mediationen „mit allen Beteiligten an einem Tisch“ an, um die so wichtige Kommunikation miteinander zu optimieren. Hierin liegt ein Riesenpotenzial zu schnellen Erleichterungen. 

Marion: 

Stephan, Depression kann ja jeden treffen. Was würden Sie Betroffenen raten, wie wichtig finden Sie Therapie und Selbstfürsorge. Und wie geht es Ihnen selbst heute? 

Stephan: 

Menschen, die ihre psychische Widerstandsfähigkeit verbessern möchten, empfehle ich mein „Grashalm-Training“.

Jenes Training habe ich selbst entwickelt und mich damit ja auch letztlich selbst heilen können. Und ich nutze es heute, um meine Klient*innen zu unterstützen. 

Kern des Trainings ist übrigens nicht die Depression, sondern vielmehr die psychische Stabilität - das ist ein wichtiger Unterschied. Und deshalb ist dieses Training auch eben nicht nur für Menschen mit Depression geeignet, sondern auch ebenso für Lebenspartner*innen und Angehörige oder auch für alle anderen Menschen, die Persönlichkeitsentwicklung oder psychische Gesundheits-Vorsorge betreiben möchten.

Zum besseren Verständnis muss ich etwas in meine Geschichte ausholen: 

Die Therapeuten nehmen an, dass ich aufgrund meiner Biografie und der genetischen Disposition bereits von frühester Kindheit an latent depressionserkrankt war, und der erste Ausbruch aber erst relativ spät passierte wegen meiner besonders leistungsorientierten Erziehung. 

Nach meiner ersten manifesten Depression im Jahr 2005 habe ich meinen Zustand noch über acht Jahre lang verneint - auch aufgrund meiner erzieherischen Prägungen. Und das trotz fünf schwerer Episoden, bei denen ich jeweils zwischen drei bis sechs Monate fast nur noch im Bett lag. Mir kommt das heute selbst unfassbar vor. 

Erst in 2013, als es schon fast zu spät war, wurde ich einsichtig und konnte mich therapeutischer Hilfe zuwenden. Insgesamt absolvierte ich über 500 Therapiestunden und war fünf Monate in einer Klinik. Die Therapeuten dort entließen mich Anfang 2016 allerdings mit den Worten: „Sie sind unheilbar an einer schweren, rezidivierenden Depression erkrankt. Sie haben nun gelernt, Frühwarnsignale zu erkennen. Kommen Sie beim nächsten Mal also bitte früh genug in die Klinik.“ 

Glücklicherweise wollte ich das so nicht hinnehmen. Und ich hatte festgestellt, dass mir die Psychoedukation und die Therapien zwar durchaus von Nutzen waren, mir aber ein ROTER FADEN fehlte. Ich vermisste in den Therapien einen geordneten Gesamtzusammenhang, ein wirkliches Heilungskonzept mit Hand und Fuß. Und ich fand es so auch nicht verwunderlich, dass all der Therapieaufwand nicht ausreichte, um genesen zu können bzw. um mich über meine Depressionen hinaus zu entwickeln. 

Ich erkannte, dass Genesung erst dann stattfinden kann, wenn ich für mich selbst die volle Verantwortung übernehme, wenn ich Selbstfürsorge betreibe, wenn ich mich konsequent selbst unterstütze. 

So beschloss ich also, mir jenen Roten Faden selbst zu erarbeiten. Und ich glaubte daran, dass eine Depression eine erhebliche Chance sein kann, um wirklich Fortschritt zu machen, wirklich etwas zu verändern, die Persönlichkeit weiter zu entwickeln und daran zu wachsen.

Es war dann ein langer Weg von rund 3 Jahren, in dem ich mir ein eigenes Gesundungskonzept und Resilienz-Training erschaffen habe. 

Das geschah viel auch einfach über das Prinzip von „Trial & Error“. Soll heißen, es bedurfte so sprichwörtlich mancher Beulen, die ich mir zugezogen habe, wenn ich mal wieder vor die Pumpe geflitzt war. Solche gefühlten Rückschläge habe ich zunehmend aber nicht mehr als tatsachliche Rückschritte interpretiert, sondern als Möglichkeiten zum Feintuning an den Trainings-Maßnahmen, um so meine Resilienz und Selbstwirksamkeit weiter zu stärken. 

So entdeckte ich beispielsweise erst nach circa 2,5 Jahren, dass mir trotz allen Wissens und aller Übung so manche durchgreifenden Fortschritte noch nicht gelungen waren, weil ich schlichtweg noch zu ungeduldig gewesen war und zu wenig selbstverzeihlich mit mir umgegangen war. 

Um psychisch stabil zu sein, benötigen wir natürlich verschiedene Kompetenzen, Methoden und Ressourcen. Aber als Voraussetzung brauchen wir vor allem ein hohes Maß an Bewusstheit, um hinreichend Kontakt zu unserem Inneren Kind zu pflegen. Denn erst wenn wir bewusst genug sind, können wir ja überhaupt wahrnehmen, dass wir in destabilisierenden Situationen gut für uns sorgen sollten. Erst dann können wir uns selbst der beste Freund sein, der uns fragt, wie es uns geht, was wir gerade am meisten brauchen, und ob er uns helfen kann. 

All das kann man lernen und trainieren. Und damit können Depressionen meiner Erfahrung nach zumindest gelindert, und oftmals auch gänzlich überwunden werden. 

Jedenfalls fühle ich mich seit circa 2019 frei von Depression. Damit sage ich aber nicht, dass mir das nie wieder passieren konnte. Denn das Leben kann durch verlustreiche Schicksalsschlage und Krisen bei jedem Menschen und zu jeder Zeit so hart zuschlagen, dass es ihn zu Boden wirft und depressiv werden lässt. Doch je besser wir die Wirkungszusammenhänge kennen und je mehr wir unsere Resilienz aufgebaut haben, umso schneller werden wir wieder aufstehen können. 

Heute versuche ich für meine Klientinnen und Klienten wie eine Art „Leuchtturm“ zu agieren. Ich möchte ihnen dabei helfen, dass sie manche langen Umwege vermeiden, die ich genommen habe. Gleichwohl weiß ich, dass die Menschen sehr unterschiedlich sind und jeder seinen individuellen Zeitpunkt bzw. sein persönliches Leid-Maximum hat, bevor er zur vollen Selbstverantwortung und Selbstfürsorge „einlenken“ kann. Da kann ich ja ein Liedchen von singen. Und schließlich geht dem Ganzen ja auch so manches Jahrzehnt Leben voraus, in dem sich lauter (unbewusste) Denk- und Verhaltensmustergewohnheiten verfestigt haben. Es braucht daher nicht nur Wissens und Kompetenzaufbau und Training, sondern auch Zeit und Geduld für eine entsprechende Transformationsarbeit. 


Vielen herzlichen Dank, Stephan Brückner das sie sich bereit erklärt haben, all meine Fragen zu beantworten. Für die ausführlichen, ehrlichen und vor allem mutigen Aussagen. Liebe Leserin, lieber Leser, mehr über Stephan Brückner, Lehrer und Trainer für geistige Gesundheit und psychologischer Berater Finden sie hier

Bedeutung: 

Resilienz* psychische Widerstandskraft 

Trial und Error* Versuch und Irrtum

Skrill* Fähigkeiten


Hinweis:Dieser Bericht ist ein Erfahrungsbericht und ersetzt keine professionelle Beratung oder Behandlung. Bei Verdacht auf eine Depression sollte immer ein Arzt oder Psychotherapeut kontaktiert werden.


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